08. Februar 2010

Wie schrumpfende Städte im Ruhrgebiet trotzdem gewinnen können

Oliver Wittke referierte beim Zukunftsforum im Bergmannsheil zu Chancen des demographischen Wandels

Die Alterung der Gesellschaft nicht als Belastung, sondern als eine positive Gestaltungsaufgabe begreifen - dies war der thematische Kern eines Zukunftsforums, das am vergangenen Donnerstag am Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikum Bergmannsheil stattfand. Gastredner Oliver Wittke, ehemaliger Minister für Bauen und Verkehr in Nordrhein-Westfalen und heutiges Mitglied des Landtags in NRW (siehe Bild), machte schon mit der Wahl seiner Begriffe deutlich, dass er den so genannten demographischen Wandel nicht in den üblichen Kategorien diskutieren wollte: „Unsere Gesellschaft leidet nicht an Überalterung - sie leidet vielmehr an einer Unterjüngung“, so eine seiner Kernthesen.

Insbesondere im Ruhrgebiet sei schon jetzt zu beobachten, dass aufgrund von Abwanderung und niedriger Geburtenrate immer weniger jüngere immer mehr älteren Menschen gegenüberstehen. Diese Erkenntnis sei zwar nicht neu, jedoch habe man viel zu spät damit begonnen, sich die Konsequenzen dieses Bevölkerungswandels klar zu machen. Durchaus selbstkritisch bezog Wittke mit dieser Anklage die Politik mit ein. Und hatte auch eine mögliche Erklärung zur Hand: „Politiker sind Menschen, die sich nicht gerne in Sachzwänge pressen lassen, die agieren wollen. Der demographische Wandel ist aber ein Prozess, den wir nicht steuern können - wir können uns höchstens mit geeigneten Strategien darauf einstellen.“

Breites Netz an Gesundheitsdienstleistungen

Wittke nannte einige wichtige Handlungsfelder: Dazu zählten insbesondere ein größeres Angebot an altersgerechten Wohnungen, ein neu strukturierter öffentlicher Nahverkehr und vor allem eine leistungsstarke Gesundheitswirtschaft: „Neben den städtischen Zentren, wo eine Spitzenversorgung durch Häuser wie das Bergmannsheil gewährleistet ist, muss es auch in den Randgebieten und Stadtteilen eine medizinische Kernversorgung geben.“ Denn gerade für ältere Menschen sei ein wohnortnahes, altersmedizinisches Angebot wichtig.

Herausforderung für die Familienpolitik

Auf der anderen Seite müsse aber auch Sorge dafür getragen werden, dass junge Familien im Ruhrgebiet eine Perspektive haben und sich wieder eher für Kinder entscheiden. Die Familienpolitik müsse dazu die richtigen Rahmenbedingungen setzen, damit junge Frauen sich nicht mehr die Frage stellen müssten: „Beruf oder Kind?“, sondern selbstverständlich beides mit einander vereinbaren könnten. Wittke verwies als Beispiel auf den Ausbau der Ganztagsschulen. Dennoch dämpfte Politiker die Erwartungen: „Bei allen Bemühungen müssen wir immer sehen: Die Bevölkerungspyramide bekommen wir nicht mehr umgedreht, der demographische Wandel ist unumkehrbar.“

Auch die Integration der im Ruhrgebiet lebenden Zuwanderer sei ein wichtiges Handlungsfeld, um den Bevölkerungswandel in einem positiven Sinne zu gestalten. Dazu gehöre zunächst die Erkenntnis, Deutschland als ein Einwanderungsland zu begreifen. Darüber hinaus komme es aber darauf an, die Integration der hier lebenden Zuwanderer voran zu treiben. Wittke bezeichnete dies als alternativlos: „Parallelgesellschaften verträgt unsere Gesellschaft nicht, denn diese bedeuten sozialen Sprengstoff.“ Ein Aspekt, der auch in der anschließenden Diskussion sehr rege diskutiert wurde.

Schrumpfende Städte müssen keine schlechten Städte sein

Auch im Städtebau biete der demographische Wandel positive Gestaltungsspielräume. Wenn die Menschen weniger würden und weniger Wohnraum brauchen, könnten auch manche der „Bausünden“ aus den 1970ern und 1980ern getilgt werden: “Schrumpfende Städte müssen also nicht unbedingt schlechte Städte sein, sondern können neue Qualitäten entwickeln“, so Wittke. Deshalb sei es auch angebracht, mit dem „Underdog-Image“ des Ruhrgebietes aufzuhören: „Wir sind mindestens so sexy wie Berlin“, zeigte sich der ehemalige Landesminister selbstbewusst.

Im Anschluss an das Referat entwickelte sich eine sehr lebhafte Diskussion. Themen wie die Überlastung der Sozialversicherung und mögliche Antworten darauf, die Steuerung der Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften nach Deutschland sowie die Chancen der Gesundheitswirtschaft wurden ausgiebig erörtert. Das Thema des demographischen Wandels bot viel Potenzial - und war auch am Ende der Veranstaltung noch lange nicht ausgereizt.

Über das Bergmannsheil

Das Berufsgenossenschaftliche Universitätsklinikum Bergmannsheil - Klinikum der Ruhr-Universität Bochum - repräsentiert den Strukturwandel im Ruhrgebiet wie kein anderes Krankenhaus: 1890 als erste Unfallklinik der Welt zur Versorgung von verunglückten Bergleuten gegründet, zählt es heute zu den modernsten und leistungsfähigsten Akutkliniken der Maximalversorgung. In 22 Kliniken und Fachabteilungen mit insgesamt 622 Betten werden jährlich rund 19.000 Patienten stationär und ca. 60.000 ambulant behandelt. Mehr als die Hälfte der Patienten kommen aus dem überregionalen Einzugsbereich. Weitere Informationen im Internet unter: www.bergmannsheil.de.