29. Juni 2017

Gericht urteilt über das Leben eines Babys

Neurologe des KKE berichtet über Gendefekt / Patientenfürsprecher klärt über friedliche Lösung auf

Ärzte dürfen gegen den Willen der Eltern die lebenserhaltenden Maßnahmen für den 10 Monate alten, schwer kranken Charlie Gard aus England abschalten. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Dienstag endgültig entschieden. Damit scheiterten die Eltern in letzter Instanz. Der Junge leidet an einem Mitochondrialen DNA-Depletionssyndrom (MDS). Die Eltern hofften bis zum Schluss auf eine experimentelle Therapie in den USA. Warum Kinder mit MDS höchstens ein paar Jahre leben, erklärt Dr. Oliver Kastrup, Leitender Arzt der Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie am Katholischen Klinikum Essen.
Charlie Gard liegt regungslos in seinem Krankenbett. Über der Nase klebt ein dickes Pflaster, das ein Drittel seines winzigen Gesichts abdeckt. In das eine Nasenloch führt ein Beatmungsschlauch, in das andere eine Magensonde. Hin und wieder öffnet das Baby die Augen, Gestik oder Mimik sind nicht zu erkennen. Es kann nicht schlucken, nicht selbstständig atmen und erlitt vermutlich bereits schwerste Hirnschädigungen. Jetzt müssen die Eltern sich von dem Jungen verabschieden.

Mitochondriales DNA-Depletionssyndrom
Das Mitochondriale DNA-Depletionssyndrom ist eine seltene, nicht heilbare Krankheit. Von der spezifischen Form, unter der Charlie Gard leidet, sind weltweit nach Aussagen der Eltern 16 Kinder betroffen. „Mitochondrien sind kleine Energiekraftwerke und Energiespeicher in den Zellen, die Erbgut in sich tragen“, erklärt Privatdozent Dr. Oliver Kastrup, Leitender Arzt der Neurologie am Katholischen Klinikum Essen. Beim gesunden Menschen wandeln die Mitochondrien aufgenommene Nahrung und Sauerstoff in Energie um. „Bei der angeborenen Krankheit MDS sind diese Zellen gestört. Das führt zu Veränderungen und Verminderungen der mitochondrialen DNA, also der Genetik der Zellkerne“, so der Neurologe.
Die Krankheit äußere sich beispielsweise durch schwächer werdende Muskeln, Schluckschwäche, Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Krampfanfälle sowie Verzögerungen in der Entwicklung. „Die Ausprägungen können ganz unterschiedlich sein“, sagt der Mediziner und schätzt: „Es gibt bestimmt 20 Unterformen.“ Bei manchen stehe die Muskelschwäche im Vordergrund, bei anderen kämen Herzschwäche, Hirnschäden, Probleme im Magen-Darm-Bereich oder eine Rückbildung der Leber hinzu. Weil die Ursache in den Mitochondrien liege, hätten alle diese Patienten bereits im Säuglings- oder Kindesalter Probleme, könnten sich nicht normal entwickeln und würden in der Regel noch vor dem zehnten Lebensjahr sterben. „Die Prognose ist schlecht. Eine anerkannte Behandlung dagegen gibt es nicht“, bedauert Dr. Kastrup.

Rund 1,4 Millionen Euro Spenden für Therapie in den USA
Trotzdem hofften Connie Yates und Chris Gard bis zuletzt auf ein Wunder: „Wir können unser Baby nicht sterben lassen, wenn es etwas gibt, das ihm möglicherweise hilft. Er verdient eine Chance und er verdient ein Leben – wie jeder andere auch.“ Sie posteten in sozialen Netzen wie Twitter und Instagram regelmäßig Fotos des Jungen und berichteten auf einer Homepage von der Krankheit ihres Sohnes. Per Crowdfunding sammelten die beiden so rund 1,5 Millionen Euro an Spenden für eine noch nicht etablierte Behandlung in den USA.
Ärzte des Londoner Krankenhauses glaubten nicht an den Erfolg der Therapie und plädieren dafür, die Maschinen abzustellen und das Kind in Würde sterben zu lassen. Britische Gerichte gaben ihnen Recht. Es gebe keine realistische, alternative Therapie für Charlie. Eine Fortsetzung der Beatmung führe nur zu mehr Schmerz, Leid und Elend. Die Einschätzung der Eltern spielte eine untergeordnete Rolle. Sie seien emotional zu sehr involviert und könnten deshalb nicht rational urteilen, hieß es.
In Deutschland hätte der Fall Charlie Gard möglicherweise eine andere Entwicklung genommen. Hier bestimmen in der Regel Familienangehörige über die Behandlung ihrer Liebsten, sofern keine Patientenverfügung vorliegt. Landet doch ein Fall vor Gericht, wird in der Bundesrepublik besonders bei Kindern meist für die Lebenserhaltung entschieden. Das Recht auf Leben ist im Grundgesetz verankert und gilt deshalb in Deutschland als besonders schützenswert.

Patientenfürsprecher setzt auf friedliche Lösung von Konflikten
Detlef Schliffke, Patientenfürsprecher am Katholischen Klinikum Essen und Vorsitzender des Bundesverbands Patientenfürsprecher in Krankenhäusern e. V. (BPiK) setzt – wenn möglich – auf eine friedliche, außergerichtliche Lösung von Konflikten. „Als Patientenfürsprecher würde ich nach einem ersten Gespräch mit den Angehörigen eine Fallkonferenz mit allen Beteiligten einberufen“, sagt Schliffke. Zunächst trägt der Angehörige oder Patient sein Anliegen vor, dann beziehen die Verantwortlichen wie Chefarzt, Oberarzt oder behandelnde Ärzte Stellung. Detlef Schliffke moderiert und versucht zu einer Lösung zugunsten der Patienten oder Angehörigen beizutragen.
Sehr viele Streitigkeiten konnte er auf diesem Weg bereits lösen. Patientenfürsprecher setzen sich, vertreten durch den BPiK, an immer mehr Kliniken in Deutschland ehrenamtlich für Patientenrechte ein. Sie vermitteln im Konfliktfall zwischen Arzt und Patient oder Angehörigen und helfen, Streit beizulegen. „Danach stehen den Patienten immer noch alle Wege offen“, so der BPiK-Vorsitzende. Häufig sei das aber nicht mehr nötig. Der BPiK versteht sich als Interessenvertretung der Patientenfürsprecher in Krankenhäusern, fördert den Austausch untereinander, gibt Leitlinien vor und macht auf Patientenrechte aufmerksam. Ob dieses Vorgehen allerdings Einigung im ethisch schwierigen Fall des zehn Monate alten Charlie Gard gebracht hätte, bleibt offen.

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