22. Mai 2013

Experten diskutieren über Chancen kombinierter Behandlungsstrategien

Grenzverletzt – wenn Menschen unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden

Etwa zwei Prozent der Allgemeinbevölkerung sind von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung betroffen; unter den ambulanten psychiatrischen Patientinnen und Patienten sind zehn Prozent Borderline-erkrankte Frauen und Männer anzutreffen und unter den vollstationären bis zu 20 Prozent.

Eine Borderline-Störung ist schwierig zu behandeln. Die Betroffenen sind emotional instabil und leiden unter ihrer gestörten Beziehungsgestaltung. Die Störung entsteht durch das Zusammenwirken verschiedener vererbter und erworbener Faktoren wie „impulsives Temperament“ und persönliche Grenzverletzungen in der Kindheit oder Jugend, wie sexueller Missbrauch, körperliche Gewalt oder emotionale Vernachlässigung. Sie geht mit einem unsicheren und wechselnden Selbstbild, geringem Selbstwertgefühl, Stressempfindlichkeit, innerer Anspannung, heftigen Gefühlsschwankungen, Selbstverletzungen und großen Turbulenzen in Beziehungen einher. Sie ist fast immer mit großem Leidensdruck für die Betroffenen und ihre Umgebung verbunden.

Über verschiedene Behandlungsstrategien diskutierten heute (22.5.) verschiedene Experten der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin des LWL-Universitätsklinikums Bochum im Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) sowie weiterer Einrichtungen in einem Symposium des Klinikums. „Borderline-Patientinnen und -Patienten benötigen eine spezielle störungsspezifische Behandlung mit Hilfen zur Stress-, Emotions- und Beziehungsregulation“, so Dr. Marc-Andreas Edel, Leiter des Tracks* „Persönlichkeitsstörungen und ADHS“. „Auf dem Symposium wollen wir einen kompakten Überblick über die verschiedenen Ansätze geben.“

Der Oberarzt setzt auf eine kombinierte Psychotherapie; hierbei werden Elemente verschiedener Therapieansätze genutzt. „Bislang gibt es vier klinisch und wissenschaftlich bewährte Psychotherapien zur Behandlung von Patienten mit Borderline-Störung“, erklärt Edel. „Das älteste und bekannteste Konzept ist das der Dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) nach Marsha Linehan, für das die meisten und aussagekräftigsten Studien existieren.“ Diese Form der Verhaltenstherapie betrifft den Patienten und das therapeutische Team gleichermaßen. Das heißt, beide Seiten sollten im Rahmen der Therapie Akzeptanz füreinander aufbringen und kultivieren als Grundlage für eine gute Zusammenarbeit: der Patient im Hinblick auf eine Veränderungsbereitschaft und das therapeutische Team hinsichtlich seiner Unterstützung nach bestem Vermögen. Durch bestimmte „Skills“ (d.h. Ketten z.B. aus sensorischen Reizen, motorischen Aktivitäten und Achtsamkeitsübungen zur bewertungsfreien Wahrnehmung) lernen Patienten, ihre Anspannung, heftigen Emotionen und zwischenmenschlichen Konflikte zu regulieren. Die DBT eignet sich als „Basis-Psychotherapie“ zur Stabilisierung.

„Viele Patienten haben jedoch über eine DBT hinaus den Wunsch, die Zusammenhänge zwischen ihrem Temperament, traumatisierenden Erfahrungen, negativen Prägungen einerseits und Konflikten und verzerrten Verhaltensmustern andererseits zu ergründen und zu klären“, schildert der Mediziner. Hier bieten sich zwei weitere „störungsspezifische“ Verfahren an: Die Schematherapie nach Jeffrey E. Young und die Mentalisierungs-basierte Therapie (MBT) nach Peter Fonagy und Anthony W. Bateman.

Die Schematherapie stammt aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Sie erweitert aber das klassische lösungs- und bewältigungsorientierte Repertoire um Methoden zur Aktivierung und Neuverarbeitung von überwiegend in der Kindheit entstandenen Mustern („Schemata“). Diese Muster können im Alltag heftige innere Konflikte zwischen unerfüllten Bedürfnissen, starken Emotionen und Impulsen („Kindmodi“) einerseits und verinnerlichten negativen Prägesätzen, Selbstabwertungen und „alten Aufträgen“ („Eltern-Modi“) andererseits, kurz: zwischen „Bauch und Kopf“, auslösen. Diesen immer wieder entbrennenden inneren Streit versuchen die Patienten mit Borderline-Störung durch Vermeidung/Flucht (z. B. durch Selbstverletzungen oder Suchtverhalten), durch Erdulden/Erstarren oder aggressives Verhalten zu „schlichten“, d. h. die Konfliktspannung zu reduzieren („Bewältigungs-Modi“). In der Therapie werden „gesunde“ Verhaltensalternativen („Gesunder Erwachsenen-Modus“) gesucht und mit Hilfe von Imaginations- und anderen Techniken eingeübt.

Ein anderes klärungsbezogenes Psychotherapiekonzept ist die Mentalisierungs-basierte Therapie (MBT). Sie stammt aus der Psychoanalyse und der Bindungsforschung. Die Grundannahme dieser Therapie ist, dass Menschen mit Borderline-Störung fundamentale Schwierigkeiten haben, sich in sich selbst und andere Personen hineinzuversetzen, um Emotionen, Gedanken, Bedürfnisse und Absichten auszuloten. Fonagy und Bateman fanden viele Hinweise darauf, dass diese eingeschränkte und phasenweise sogar aufgehobene Fähigkeit bei emotionaler Instabilität auf Störungen des „Bindungssystems“ zurückgeht. „Bindungssystem“ bezeichnet das (in der Kindheit vor allem durch die emotionale Wärme und emotionale Kommunikation der eigenen Mutter geprägte) Erleben, Verhalten und den Grad der Fähigkeit, sowohl vertrauensvolle Nähe zu anderen Personen herzustellen, als auch mit einem Gefühl der Sicherheit autonom handeln zu können.

Das LWL-Universitätsklinikum Bochum hat ein eigenes Behandlungskonzept mit acht Modulen der MBT entwickelt, da die bisherigen MBT-Programme für längere ambulante oder tagesklinische Behandlungen konzipiert waren. „In einem Forschungsprojekt vergleichen wir zur Zeit Patientinnen, die neben stationärer Basistherapie DBT erhalten, mit Patientinnen, die mit Basistherapie, DBT und zusätzlich MBT behandelt werden“, erläutert Edel. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, ob das neue MBT-Programm einen „therapeutischen Mehrwert“ hat, d.h. ob Borderline-Symptome durch den zusätzlichen Klärungsansatz stärker reduziert werden als durch die alleinige (bewältigungsorientierte) DBT. Edel ist zuversichtlich: „Eine erste Auswertung und überwiegend sehr positive Rückmeldungen der Patientinnen und der Eindruck des Stationsteams, dass die Patientinnen unter kombinierter Psychotherapie besser profitieren, stimmen uns sehr hoffnungsvoll.“

Neben der MBT kombinieren die Therapeuten des Klinikums auch die Schematherapie, die ebenfalls klärungsbezogen ist, mit (den lösungs- und bewältigungsorientierten) DBT-Elementen. Für diese Kombination wir derzeit noch keine Forschung betrieben. Allerdings lassen die Behandlungsergebnisse positive Rückschlüsse zu.
Das vierte evidenz-basierte Verfahren zur Behandlung der Borderline-Störung, die sogenannte Übertragungs-fokussierte Psychotherapie (TFP), ist eine psychodynamische bzw. psychoanalytische Therapie. Diese wird nur in Ansätzen und bei einzelnen Patientinnen angewandt und entfaltet ihre Wirkung über größere Zeiträume, setzt sehr viel Erfahrung des Therapeuten voraus und ist für die Anwendung in stationären Gruppen weniger geeignet.

Oberarzt und Wissenschaftler Dr. Marc-Andreas Edel will mit dem Symposium vor allem eines erreichen: „Wir möchten Kolleginnen und Kollegen von der Wirksamkeit und den Chancen einer kombinierten Psychotherapie überzeugen und damit vielen Menschen mit einer Borderline-Störung zu einem selbstbestimmteren Leben verhelfen.“

*„Track“ meint den Klinikbereich mit den Behandlungsformen ‚vollstationär’, ‚teilstationär’ und ‚ambulant’.