01. September 2015

Der kleine Unterschied

Gender-Medizin im St. Marien-Krankenhaus Siegen

Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, das ist Menschenrecht. Aber vor den Gesetzen der Natur ist das nicht so. Ob Herzschwäche, Nierenfunktion oder die Rolle der Hormone - Geschlechter reagieren verschieden. Der berühmte „kleine Unterschied“ zwischen Mann und Frau ist vor allem medizinisch gesehen gar nicht so klein. Das hat Konsequenzen für Diagnose und Therapie, wie es am 1. Siegener Tag der Frauengesundheit am 12. September um 10 Uhr in der Siegerlandhalle in Siegen thematisiert wird. Neben Fachvorträgen und Workshops ist eine Mitmach-Ausstellung rund um das Thema Frauengesundheit zu sehen. Moderiert wird die Veranstaltung von Michaela Padberg vom WDR. Organisiert wird der Tag vom St. Marien-Krankenhaus Siegen und der AOK Nordwest. Die Organisatoren rechnen mit 600 Teilnehmerinnen, und der Eintritt ist frei.

Dass sich Frauen und Männer in Körpergröße wie auch Körperbau unterscheiden, ist offensichtlich. Aber auch die inneren Organe sind bei Männern beispielsweise größer, ihre Gefäße dicker und ihre Knochen dichter. Der weibliche Körper funktioniert also nach eigenen Regeln. Auf Medikamente sprechen Frauen oft völlig anders an als Männer. Und selbst Krankheiten können bei ihnen andere Symptome zeigen – mit lebensgefährlichen Konsequenzen. Die medizinische Forschung hat das lange ignoriert. Inzwischen aber haben Forscher in der „Gender-Medizin“ Erkenntnisse gewonnen, die nicht ohne Konsequenzen für die medizinische Therapie bleiben können oder dürfen.

Der englische Begriff Gender steht schlicht für Geschlecht. Gender-Medizin ist damit eine Wissenschaft, die Forschung, Diagnose- und Therapie unter geschlechtsspezifischen Aspekten betrachtet.

Einen Wendepunkt für die medizinische Forschung lieferte hierbei die Raumfahrt. Anfang der 1980er Jahre startet die Astronautin Sally Ride als erste Amerikanerin ins Weltall. Wie ihre männlichen Kollegen absolvierte auch sie das Leben in der Schwerelosigkeit problemlos. Erst die Rückkehr auf die Erde wird für sie schwierig. In der Phase der Wiedereingewöhnung verliehrt die Astronautin mehrfach ihr Bewusstsein. Da auch manche ihrer männlichen Kollegen nach der Reise mit der Wiederanpassung an die Schwerkraft zu kämpfen haben, fällt dies zunächst nicht besonders auf: Denn das Blut sackt mit der Erdanziehung verstärkt in die Beine. Das Herz muss nun gegen die Schwerkraft anpumpen, um ausreichend Blut ins Gehirn zu fördern. Reicht die Blutzufuhr nicht aus, schaltet das Gehirn zuerst alle Areale aus, die nicht dem Überleben dienen. Nach Sally Ride schickt die NASA immer häufiger Frauen in die Schwerelosigkeit. Und alle Astronautinnen werden in der Zeit nach ihrer Rückkehr ohnmächtig. Bei den männlichen Kollegen ist es dagegen nur jeder fünfte. Die Hormone werden direkt verdächtigt. So viel ist Wissenschaftlern bekannt: Östrogene weiten die Blutgefäße. Um die Versorgung des Gehirns zu gewährleisten, muss das Frauenherz viel stärker pumpen als das Männerherz. Die Astronautinnen sind deshalb empfänglicher für eine Ohnmacht.

Die Beobachtungen an den Astronautinnen machen klar: Es gibt folgenschwere Unterschiede im Herz-Kreislauf-System der Geschlechter. Auch neue Studien zeigen, dass vor allem junge Frauen deutlich häufiger an Herzinfarkt sterben als junge Männer. Der Grund dafür ist, dass oft weder die betroffenen Frauen noch die Ärzte die Symptome schnell genug richtig deuten. Neben den typischen Brustschmerzen verspüren Frauen vielfach zahlreiche andere Symptome. Einigen wird einfach nur schlecht oder schwindelig. Das Risiko für junge Frauen, einen Herzinfarkt zu verschleppen, ist daher sehr viel höher als bei Männern gleichen Alters.

Nicht nur für junge Frauen ein Problem: Ein weiterer Unterschied zwischen Mann und Frau ist, dass beim weiblichen Geschlecht Herz-Kreislauf-Erkrankungen erst in höherem Alter – im Zusammenhang mit der Hormonumstellung – gehäuft auftreten. Denn in den Wechseljahren produziert der Körper immer weniger des Sexualhormons Östrogen, das eine Schutzfunktion für das Herz ausübt. Etwa zehn Jahre nach der Menopause ist dann das Risiko für einen Herzinfarkt oder eine Arterienverkalkung am größten. Während also bei Frauen ein Herzinfarkt erst ab einem Alter zwischen 50 und 60 Jahren verstärkt auftritt, sind Männer schon früher davon betroffen.

Auch in Bereichen jenseits der Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist der kleine Unterschied größer als zunächst erwartet. Gesteuert durch Sexualhormone, unterscheidet sich die Wasser-Muskel-Fett-Verteilung von Männern und Frauen. Letztere haben einen deutlich höheren Fettanteil als Männer, während deren Körper mehr Muskelgewebe und mehr Wasser aufweist. Die unterschiedliche Körperzusammensetzung wirkt sich auch auf die Pharmakokinetik von Medikamenten aus: Manche Arzneimittel haben daher auf den weiblichen Organismus eine andere Wirkung als auf den männlichen.

Organisation & Konzeption des Siegener Tags der Frauengesundheit: Dr. Christian Stoffers.