13. Dezember 2022
„Brauchen Abkehr von Regulierungsideologie“
Düsseldorf. Die Stimmung war zum Reißen gespannt. Eben erst hatte die Regierungskommission ihre Reformvorschläge zur Krankenhausversorgung in Berlin vorgestellt. Eine denkwürdige Pressekonferenz des Bundesgesundheitsministers Prof. Karl Lauterbach hatte zwar nicht die angekündigte „Revolution“, aber doch jede Menge Irritationen ausgelöst – und bei manchen Klinikchefinnen und -chefs den Blutdruck hochschnellen lassen. Bei den mehr als 250 Gästen aus Krankenhäusern, Gesundheitsbranche und Politik, die am 6. Dezember zum KGNW-Forum ins Düsseldorfer Maritim-Hotel gekommen waren, sorgte das für immense Unruhe. Denn das Motto „No Future? Krankenhäuser im Umbruch“ wurde damit noch aktueller als ohnehin schon. Angesichts kräftezehrender Pandemie, existenzgefährdender Kostenexplosion und herausfordernder Krankenhausplanung bestand bereits viel Gesprächsbedarf.
Kurzfristig sei das Programm deshalb aktualisiert worden. Wobei „kurzfristig“ als Wort des Jahres für die Krankenhäuser ohnehin den Politikstil des Bundesgesundheitsministers treffend kennzeichne, bemerkte Ingo Morell, Präsident der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW), bei der Eröffnung des KGNW-Forums. Dagegen werde in Nordrhein-Westfalen bereits an der Zukunft gebaut. „Krankenhausplanung muss am Ende den Bürgerinnen und Bürgern dienen und darf kein Selbstzweck sein“, betonte Morell.
Insolvenzkanzleien beraten bereits Krankenhäuser
Dankenswerterweise hatte Prof. Boris Augurzky vom RWI Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung, der Mitglied der Regierungskommission ist, einen Überblick über die kurz zuvor erstmals in Berlin vorgestellten Reformvorschläge zugesagt. Zuvor allerdings beschrieb Dr. Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), die Erwartungen der Krankenhäuser an eine Krankenhausreform. Die wirtschaftliche Lage habe sich seit dem letzten Krankenhaus Rating Report dramatisch verschlechtert, weil die Inflationsrate über 10 Prozent geklettert sei und auch die Prognose der Wirtschaftsweisen für 2023 bei 8,8 Prozent liege. Die auf Insolvenzen spezialisierten Kanzleien säßen bei vielen Finanzplanungen bereits beratend mit am Tisch. „Die Lage ist wirklich schwierig“, betonte Dr. Gaß, das schließe auch Krankenhäuser in kommunaler Trägerschaft sein.
Allein 2022 müssten Krankenhäuser 5 Milliarden Euro Kostensteigerungen hinnehmen die nicht gedeckt seien. 2023 sei mit weiteren 10 Milliarden Euro zu rechnen, dazu kämen absehbare Erlösverluste von 3 Milliarden Euro. Zwar habe Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im bei Markus Lanz im ZDF versprochen, dass kein Krankenhaus wegen der Inflationskosten in die Insolvenz gehen werde. Doch nun betone der Minister, dass es für Inflation kein Geld geben werde. Die im Hilfspaket für die Energiekosten vorgesehenen 6 Milliarden Euro könnten dafür nicht eingesetzt werden.
„Krankenhäuser kennen Probleme und bieten Lösungen“
Zu den notwendigen Reformen bekräftigte Dr. Gaß, die Krankenhäuser hätten bereits Vorschläge unterbreitet, seien aber nicht gehört worden. „Wir wissen wo die Probleme liegen, wir kennen auch Lösungen.“ Bisher fehle ein Vorschlag, wie klinisch-ambulante Leistungen finanziert werden sollten. Auch für Verbünde von Krankenhäusern müsse es eine Struktur geben. Zu den Plänen des Bundesgesundheitsministers mahnte Gaß: „Wir brauchen eine Abkehr von der Regulierungsideologie.“ Der Handlungsspielraum der Krankenhäuser müsse wieder eine Personalplanung im Interesse der Patientinnen und Patienten sowie der Mitarbeitenden ermöglichen.
Lauterbach könne nicht glauben, dass ihm alle Bundesländer euphorisch folgten, sagte Dr. Gaß: „Der Prozess der Konsensfindung hätte am Anfang stehen müssen.“ Dass der Minister selbst die bundesweit ehrgeizigste Krankenhausplanung in NRW als nicht „radikal“ genug bezeichne, werde die Länder kaum motivieren.
Vorhaltekosten sollen Sicherheit schaffen
Es würden immer mehr offene Stellen in den Krankenhäusern bei der Arbeitsagentur des Bundes gemeldet, beschrieb Prof. Boris Augurzky die Ausgangssituation. Das führe zu einer „gewissen Fehlallokation der knappen Ressource Personal“. Zugleich gingen die Baby-Boomer verloren, bevor sie auf Patientenseite wieder auftauchen. „Es ist alles irgendwie schwierig geworden.“ Für Krankenhäuser wie für Kassen. Deshalb müsse die Finanzierung reformiert werden. Das revolutionäre dabei sei die Einführung der Vorhaltekosten als eigenständiger Finanzierungssäule, die anfangs etwa ein Drittel, später mit dem Pflegebudget zusammengefasst 40 Prozent ausmache. In wenigen Bereichen (beispielsweise Geburtshilfe) soll dies 60 Prozent ausmachen. Dies sei einer von drei Bausteinen für das Reformkonzept, das ebenfalls auf Leistungsgruppen aufsetze, wie sie ähnlich in NRW eingeführt werden. Vorgeschlagen seien 128 Leistungsgruppen, die dann auf die jeweilige Versorgungsstufe („Level“) der Krankenhäuser aufsetzten. In NRW sind 64 Leistungsgruppen definiert.
In dem Stufensystem erfülle Level I die Grundversorgung – aufgeteilt in Notfallversorgung (Level I-n) und integrierte Versorgung (Level I-i), die auch hybride Behandlungen anbieten. Level II definierte Prof. Augurzky als Kliniken, die sich auf die stationäre Versorgung in einer Region konzentrieren und mindestens jeweils über drei chirurgische und internistische Leistungsgruppen anbieten, dazu Gynäkologie, Geburtshilfe, Stroke Unit, Low Care und High Care Intensivmedizin sowie über weitere Leistungsgruppen aus mindestens fünf Leistungsbereichen verfügen und weitere definierte Attribute erfüllen. Finanziert würde ein solches Haus nach abgespeckten DRGs und Vorhaltefinanzierung nach Leistungsgruppen und Pflegebudget. Basis seien nach ICD und OPS definierte Leistungsgruppen, mit denen die Einordnung in verschiedene Versorgungsstufen verbunden ist. Level III seien Maximalversorger und Universitätskliniken.
Augurzky: NRW kommt Reformvorschlägen am nächsten
Die neue Finanzierung soll Prof. Augurzky zufolge den Mengenanreiz verringern, weil nur die reduzierten DRGs mengenabhängig seien. Ihr Einfluss auf die Erlöse sei noch gegeben, aber geringer, betonte Prof. Augurzky. Lediglich beim neuen Level I-i – ideal für kleine Krankenhäuser bis 100 Betten – sollen stattdessen Tagespauschalen abgerechnet werden. Diese Einrichtungen seien pflegerisch orientiert, könnten deshalb auch von Pflegefachkräften geleitet werden. Die Umstellung auf die Vorhaltebudgets solle binnen 5 Jahren abgeschlossen sein. Ausgangspunkt hierfür sei der aktuelle Marktanteil der Krankenhäuser, für die das Vorhaltebudget dann eingefroren werde. Unverändert empfehle die Kommission einen Strukturfonds, der sogar höher ausgestattet werden solle.
Den Bundesländern empfahl Prof. Augurzky, „dass man die Krankenhausplanung damit auch harmonisiert“. Gerade in NRW könne diese Harmonisierung umgesetzt werden, indem man die hier geplanten Leistungsbereiche und Leistungsgruppen unter die im Bund festgelegten 128 einordne. „Schwierig wird es bei den Levels“, räumte er ein. Viele NRW-Häuser lägen dort in der Mitte.
Klein Schmeink zufrieden: Regierungskommission setzt Ampel-Vorgaben um
Maria Klein-Schmeink, Vizefraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, unterstrich in der anschließenden Podiumsdiskussion, dass die Regierungskommission sich mit ihren Vorschlägen eng an die Vorgaben des Koalitionsvertrages gehalten habe. Damit stellte sie die Arbeit in ein etwas anderes Licht als der Bundesgesundheitsminister, der betont hatte, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hätten frei von politischen Vorgabe gearbeitet. Auch von einer „Revolution“ wollte sie nicht sprechen. „Wir werden beherzt handeln müssen – und zwar Bund und Länder.“ Das Versorgungssystem stehe vor einer „enormen Krise“. Sie sei überdies froh, das vorab schon Kinder- und Jugendabteilungen sowie Geburtshilfen finanziell gestärkt worden seien. Allerdings betonte Klein-Schmeink, das hierfür verwendete Geld stamme aus dem Gesundheitsfonds. Dr. Gaß wies sie deshalb darauf hin, dass der Bundesgesundheitsminister die Summe von 400 Millionen Euro vorweg aus dem DRG-Volumen der Krankenhäuser gestrichen habe.
Dr. Johannes Albert Gehle, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, kritisierte, dass die Regierungskommission die Leistungsbereiche und -gruppen des Berliner Ökonomen Prof. Reinhard Busse übernommen habe, obwohl die in NRW bereits als medizinisch unpraktikabel für die ärztliche Arbeit abgelehnt worden seien. „Wir sind fest davon überzeugt, dass wir in Nordrhein-Westfalen das System gewählt haben, das in dieser Zeit vernünftig eingeführt werden kann.“
Viele Fragezeichen hinter Stufensystem
Für die NRW-Krankenhäuser seien die Vorschläge nach drei Jahren Vorbereitung auf die neue Krankenhausplanung keine Überraschung mehr, beantwortete Wolfgang Mueller, Geschäftsführer der Vestischen Caritas-Kliniken, die Frage von Moderator Ralph Erdenberger. „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.“ Die Berliner Pläne dürften nicht dazu führen, dass die NRW-Kliniken den fortgeschrittenen Prozess neu beginnen müssten. Die neue Stufe Level I-i klinge für ihn nach „Krankenhaus light“. Auch Dr. Gehle wies auf viele ungeklärte Frage hin. „Das ist zu wenig durchdacht.“ Und ohne ärztliche Einbindung sei das kein Krankenhaus mehr. Prof. Augurzky betonte, es gehe um die wohnortnahe Versorgung. Die Details, wie Level I-i ausgestaltet werde, müssten allerdings nun erst diskutiert werden. Klein Schmeink ergänzte, darüber müsse nun mit den Ländern gesprochen werden. Jetzt liege nur der Vorschlag auf dem Tisch.
Dr. Gaß mahnte an, unabhängig von der weiteren Ausgestaltung müsse geklärt werden, wie der Start in die Reform geschehen soll. Vorher müsse geklärt werden, wie die Länder die Pflicht zur Investitionsfinanzierung erfüllen und wie ein Strukturfonds gestaltet werde. Klein-Schmeink antwortete, es sei unbestreitbar, dass es ein „beherztes“ Zusammenspiel von Bund und Ländern brauche. Das sei auch notwendig, weil nur die Länder über die Schließung von Standorten entscheiden könnten. Es gehe darum, das Geld „klüger zu verteilen“. Neues Geld werde es nicht geben.
Vorhaltekosten müssten aber auch mit Vorhaltekapazitäten einhergehen, mahnte Mueller. Gerade in den Kinderkliniken zeige sich aktuell, wie groß die schon lange bestehenden Lücken seien. Und Dr. Gehle bemängelte, die Reformvorschläge ließen einen noch weiter steigenden Dokumentationsaufwand für ärztliches und pflegerisches Personal in den Krankenhäusern befürchten. Gerade in der Kategorie Level I-n seien die Vorhaltekosten für ländliche Krankenhäuser als Sicherstellung zu verstehen, sagte Prof. Augurzky. Sie bräuchten ein höheres Mindestbudget, von dem sie leben könnten. Dafür müsse dann auch mehr Geld bereitstehen. Die bestehenden Defizite in den Krankenhäusern vor einem Systemwechsel auszugleichen, sei eine Entscheidung der Politik, betonte Prof. Augurzky. Die Regierungskommission habe sich auf Vorschläge für eine neue Struktur beschränkt.